DAS MÄRCHEN VON NORMOS, ANOS UND ONS (22.10.1986)


  Es war einmal auf einem normalen Planeten, der um eine normale Sonne kreiste, Jahr um Jahr. Auf diesem normalen Planeten lebten lauter normale Wesen, Tag um Tag. Und alle normalen Wesen lebten ein normales Leben. Alle? Fast alle. Ausnahmen sind ja - fast - normal. Und deshalb gab es in allen normalen Staaten die Ons, die Obernormalen. Sie achteten darauf, daß alles normal blieb und auch das Anomale im normalen Rahmen. Insbesondere achteten sie darauf, daß die Anos, die Anormalen, nicht als normal angesehen wurden, sondern den Normos, den Normalen, als Beispiel dienten für die Schrecken des falschen Weges.

  In einer normalen Stadt lebte ein junger Normo. Und wie so viele junge Normos hatte er seine Probleme mit dem Normalsein. Immer wieder hatte er das Gefühl, es müsse etwas jenseits der Normalität geben. Ja, manchmal konnte man so etwas erfahren: wenn er dann mit anderen jungen Normos zusammen war, wenn sie glaubten die Grenzen der Normalität zu lüften, manchmal nur für Augenblicke. Und manchmal fühlten sie sich wie die Anos, ja manchmal glaubten sie sogar, sie wären welche. Aber das lag nur daran. daß sie die Anos, die es geschafft hatten, nicht normal zu sein, im Stillen bewunderten. Aber sie waren und blieben Normos und die Ons achteten darauf, daß alles im Rahmen des Normalen blieb. Normos sind normalerweise nämlich bequem. Und die Bequemlichkeit sorgt schon ganz von selbst dafür, daß Normos normalerweise Normos bleiben.

  Und genau so erging es auch unserem jungen Normo, der keiner sein wollte und doch einer war. Er lebte letztlich so. wie es die Ons gerne sahen und verstrickte sich immer mehr in die Normen der Bequemlichkeit. Nur manchmal brannte etwas in ihm. Er erinnerte sich dann daran, daß sie früher einmal etwas erahnten, das außerhaib der Normalität lag und das sie ,Glück' nannten.

  Eines Tages, unser Normo war gar nicht mehr so jung, da brannte es in ihm besonders stark. Er hatte wieder einmal mit dem Gedanken des Ausbruchs aus Bequemlichkeit und Normalität gespielt und eine Chance, die nie eine war, hatte er vertan. Und als der Normo dann im stillen Kämmerlein saß und mit seinem Schicksal im Streit lag und auf die Normalität schimpfte, die er nun ein Leben lang als Gefängnis vor sich sah, und als er mit dem Gedanken haderte, daß er nie jenes Glück erleben würde ... kurz: als er bitterlich geweint hätte, wenn auch das nicht außerhalb der Normalität gelegen hätte, da erschien im die Hexe.

  "Was willst du von mir?" schrie der Normo erschreckt, denn das Hexen erscheinen, war durchaus nicht normal.

  "Ich kann dir helfen. Vielleicht. Aber du selbst mußt etwas dazu tun!"

  "Was muß ich tun? Ich tue alles." sagte er; ,fast alles' dachte er.

  "Überwinde Bequemlichkeit und Angst. Du hast noch eine einzige Chance. Dann werden die Verstrickungen in die Normalität so stark, daß du es nie mehr schaffen kannst. Eine Chance, eine einzige, wirst du noch haben. Nutze sie!"

  "Ich werde sie nutzenl"

  Und bevor die Hexe kirchernd verschwand, gab sie ihm ein Amulett: "Wenn du deine Chance vertan hast, komme ich wieder und hole es mir. Viele haben es getragen. Vielen habe ich es wieder genommen!."

  Und dann war wieder alles normal. War das alles ein Traum? War es überhaupt? Der normale Planet hatte noch keinen normalen Umlauf um die normale Sonne gemacht, da begab es sich, daß unser schon nicht mehr ganz junge Normo vereisen mußte. Das war durchaus normal, daß ein Normo, der eine bestimmte Aufgabe hatte, auch einmal vereisen mußte. Ebenso normal war es, daß ein anderer junger Normo mit ihm reiste, denn lange Bahnfahrten sind normalerweise langweilig, wenn man alleine reist.

  Und so fuhren sie gemeinsam am frühen Morgen in die andere Stadt. Es war eine ganz normale Reise, wie sie viele Normos machen müssen. Normalerweise wäre so etwas nicht erwähnenswert, so normal ist das alles.

  Aber da war etwas, das nicht normal war. Er wußte nicht genau. was da nicht normal war, aber irgendetwas war da. Nein, es war nicht das Glück, denn dazu fehlte noch etwas. Aber unser Norme glaubte, er könne das Glück erahnen. Etwas ganz besonderes lag da in der Luft. Am liebsten wäre er gesprungen. hätte getanzt und gesungen. Nein, nicht alleine, sondern zusammen mit dem anderen Normo, der ihn begleitete. Aber hätte dieser das verstanden? Hätte ihn dieser nicht ausgelacht und gesagt: Du bist ja nicht normal? Und wie wäre es weitergegangen? Schließlich war er nicht mehr ungebunden. Und normalerweise löst man Bindungen nicht, auch dann nicht, wenn es besser wäre. Also dachte er sich, wenn der andere Normo auch gerne tanzen und singen wolle, könne er es ja zeigen. Und dann würden sie gemeinsam ausflippen und ausbrechen.

  Aber es tat sich nichts.

  Und auch der andere Normo spürte, daß da etwas in der Luft lag. Am liebsten wäre er gesprungen. hätte getanzt und gesungen. Nein, nicht alleine, sondern zusammen mit dem anderen Normo. Aber hätte dieser ihn verstanden? Hätte ihn dieser nicht ausgelacht und gesagt: Du bist ja nicht normal? Und wie wäre es weitergegangen. Schließlich war der andere Normo ja bereits gebunden. Und normalerweise hat man nur eine Bindung. Wenn der andere Normo auch gerne tanzen und singen wolle, könne er es ja zeigen. Und dann würden sie gemeinsam ausflippen und ausbrechen.

  Aber es tat sich nichts.

  Und so fuhren sie nach einem Tag, an dem nichts passierte und einer Nacht, in der nichts passierte, wieder zurück, ganz normal. Und als sie während der Zugfahrt über den Tag redeten, sprachen sie über vieles. Aber was sie gespürt hatten, davon sprachen sie nicht. Der andere könnte es vermutlich nicht verstehen oder gar bei den Ons gegen ihn selbst verwenden.

  Und am späten Abend, als unser Normo allein in seinem Bett lag, da erschien die Hexe, riß ihm das Amulett ab, kicherte und verschwand.

  Und die Stelle auf seiner Brust, wo das Amulett war, direkt über seinem Herzen, brannte.

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